Der Begriff „integrative Inklusion“ beschreibt die Vorstellung einer Gesellschaft, die nicht nur alle Menschen einschließt, sondern sie auch aktiv in alle Bereiche des sozialen Lebens einbezieht. Diese Vision geht über die bloße Toleranz oder die passive Akzeptanz von Unterschieden hinaus, sondern fordert eine aktive Förderung der Vielfalt und der individuellen Bedürfnisse jedes Einzelnen.
Die Roma-Minderheit stellt hierbei eine besondere Herausforderung dar. Denn die Roma sind seit Jahrhunderten eine stigmatisierte und ausgegrenzte Minderheit in Europa. Oftmals leben sie in separaten Siedlungen und werden aufgrund ihrer kulturellen und sprachlichen Unterschiede diskriminiert. Zudem haben viele Roma eine schlechte Bildung und wenig Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten und sozialen Dienstleistungen.
Die integrative Inklusion verfolgt das Ziel, diese Ungleichheiten zu überwinden und die Roma-Minderheit aktiv in die Gesellschaft zu integrieren. Dies erfordert nicht nur eine Entgegenwirkung der strukturellen Diskriminierung, sondern auch eine Anerkennung und Förderung der Roma-Kultur und -Identität. Eine Kultur, die eine lange und reiche Geschichte hat und oft durch Musik, Tanz und Handwerk ausgedrückt wird.
Ein wichtiger Aspekt der integrativen Inklusion ist die Bildung. Es geht darum, allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Bildungschancen zu ermöglichen. Dazu gehört auch die Förderung der Mehrsprachigkeit, um die Sprachbarrieren zwischen Roma und Nicht-Roma zu überwinden. In diesem Zusammenhang sollten auch die Erfahrungen und die Kultur der Roma in den Lehrplan integriert werden.
Ein weiterer zentraler Aspekt der integrativen Inklusion ist der Arbeitsmarkt. Es geht darum, dass Roma Zugang zu qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen und Ausbildungsmöglichkeiten haben. Hierfür ist eine gezielte Förderung notwendig, die auch die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten berücksichtigt.
Die Roma-Minderheit muss in den politischen Entscheidungsprozess einbezogen werden, um eine erfolgreiche integrative Inklusion zu gewährleisten. Hierfür sind Maßnahmen zur Förderung der politischen Partizipation notwendig, zum Beispiel durch die Etablierung von Roma-Vertretern in politischen Institutionen.
Insgesamt bedeutet die integrative Inklusion ein Umdenken in der Gesellschaft. Es geht darum, die Vielfalt als Chance zu begreifen und aktiv zu fördern, statt sie als Bedrohung zu empfinden. Eine Gesellschaft, die auf inklusiver Integration beruht, erkennt an, dass jede Person einzigartig ist und das Potenzial hat, positiv zum gemeinsamen Ganzen beizutragen.
Im Hinblick auf die Roma-Minderheit erfordert die integrative Inklusion eine Anerkennung der Einzigartigkeit der Roma-Kultur und -Identität. Nur so kann eine wirklich inklusive Gesellschaft geschaffen werden, in der alle Menschen gleichberechtigt sind und sich wertgeschätzt fühlen.
Als Roma- und Sinti-Beauftragter der Hamburger Schulbehörde kämpft Marko Knudsen gegen Antiziganismus. Er hat noch viel zu tun.
taz: Herr Knudsen, Sie sind im Hamburg der 1980er-Jahre aufgewachsen. Haben Sie in Ihrer Jugend Antiziganismus erlebt?
Marko Knudsen: Ich habe dazu zwei Erfahrungen im Gepäck. Die eine ist: Die meisten hat es nicht interessiert, dass ich Rom bin. Das Gefühl hatte ich auch bei meinen Lehrern.
Und die andere Erfahrung?
An meiner Schule gab es zwei junge Skinheads, wie man sie sich vorstellt: rasierte Köpfe, Bomberjacken, Springerstiefel. Ich war zwölf oder 13 Jahre alt, als ich an denen vorbei gegangen bin und gesagt habe: „Scheiß Nazis!“ Als Resultat habe ich dann auf die Fresse gekriegt und habe mich anderthalb Jahre über den Zaun in die Schule geschlichen. Irgendwann hat meine Mutter herausgefunden, dass da irgendetwas nicht stimmt. Dann habe ich es ihr gebeichtet. Sie besprach es mit dem Schulleiter und das Ergebnis war, dass ich mich bei den Skinheads entschuldigen musste.
Und danach? Welche Vorurteile begegnen Ihnen immer wieder?
Die beiden größten Vorurteile, die uns auferlegt werden, sind zum einen, dass wir asozial und kriminell seien. Das andere böse Vorurteil ist, dass wir Nomaden sind und dass man uns deshalb auch nirgendwo tolerieren braucht und uns weiter vertreiben kann.
Was entgegnen Sie darauf?
Wir sind keine Nomaden. Wir leben da, wo wir leben können. Das Problem ist, dass ganz viele nicht den Mut haben zu sagen, sie gehören dazu. Sie haben Angst vor den Diskriminierungen und outen sich nicht, weil sie sonst nicht erfolgreich sein können. Das zeigt sich zum Beispiel auch an Marianne Rosenberg oder Sido: Die haben sich zwar auch geoutet, aber eben als sie Stars waren und nichts mehr zu verlieren und keine Existenzängste mehr hatten.
Warum kommt das hier in den Köpfen nicht an?
Das sind diese zwei unterschiedlichen Welten, die nicht zusammen kommen. Die eine Seite verweigert sich, um die Vorurteile nicht aufgeben zu müssen, die seit 600 Jahren in Europa herrschen. Und die wurden ja nochmal hochstilisiert und verfeinert von den Nationalsozialisten. Wie auch die Juden wurden Roma und Sinti in der NS-Zeit mit Tiervergleichen und anderen entmenschlichenden Vergleichen belegt, um diese Vernichtungsmaschinerie gegen sie überhaupt erst möglich zu machen.
Wie ist die Entwicklung seit 1945?
Die Berichterstattung über uns ist rein negativ. Man hat als Gesellschaft immer noch nicht für die Taten in der NS-Zeit Verantwortung übernommen. Es wird noch immer darüber geschwiegen. Da sehe ich massive Defizite. Das ist ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag, an dem noch Generationen arbeiten werden müssen, damit wir das Schweigen überwinden.
Sie haben schon früh mit der Arbeit gegen den Antiziganismus begonnen.
Mit 14 habe ich angefangen bei uns in der „Rom und Cinti Union“ mitzuarbeiten. Den Verein hatte mein Vater in den 1980er-Jahren gegründet. Da war ich auch knapp 20 Jahre im Vorstand. Ich habe auch einen eigenen Jugendverband gegründet. Ziemlich früh, mit 16, war ich schon unterwegs in Europa mit Jugendorganisationen.
Wie ging das los mit Ihrem Engagement?
Damals hatte mein Vater Streikaktionen organisiert, mit denen sie eine Bleiberechtsregelung erstritten haben. Es wurde das ehemalige Konzentrationslager Neuengamme besetzt und ein Hungerstreik im Hamburger Michel gemacht. Ich habe damals geholfen, Papiere auszufüllen und bin in die Büroarbeit gerutscht. Es gab einfach nicht genügend Menschen, die lesen und schreiben konnten. Da habe ich alles von der Pike auf gelernt – von der Verwaltung über das Dolmetschen bis zur Sozialarbeit.
Welche Sprachen sprechen Sie denn?
Mein Vater war mit seinen Eltern aus Polen und Großeltern aus Rumänien und der Slowakei mit vier Jahren nach Hamburg gekommen. Ich habe daher noch einen Rucksack voller Sprachen, auch Romanes, mitgekriegt. Meine Muttersprache ist aber Deutsch.
Und heute machen Sie diese Arbeit noch immer.
Als Roma- und Sinti-Beauftragter arbeite ich eng mit Hamburger Schulen zusammen, konkret mit den regionalen Beratungs- und Bildungszentren. Da geht es um Absentismusfälle und um die Frage, wie Bildungsteilhabe durch Inklusion gelingen kann.Anzeigehttps://0faa425b1d7a0976b508d7da933aebe7.safeframe.googlesyndication.com/safeframe/1-0-38/html/container.html
Was wissen die Schüler denn von Sinti und Roma?
Das, was sie von Zuhause mitkriegen und was in den Medien wiedergegeben wird: also hauptsächlich Stereotype.
Sie lernen in der Schule nichts über Roma?
In der Schule lernt man nichts über Roma. Höchstens noch einen Satz zum Holocaust, dass die Vernichtungsmaschine auch gegen uns gefahren worden ist. Die Roma- und Sinti-Kinder, die in der Schule sind, finden sich nirgends wieder in der Schule. Deshalb habe ich eine Ausstellung erarbeitet, eine Wanderausstellung durch Hamburger Schulen, in der im Komplettpaket Informationen ausgestellt werden. Diese Kinder erkennen: „Da ist etwas über mich, über meine Menschen, mein Volk. Ich finde plötzlich statt in der Schule.“ Und auf der anderen Seite ist es ein Öffnungsmechanismus bei den Lehrkräften: „Guck mal, wir wissen so wenig darüber.“ Die Stereotype muss man aufbrechen. Das geht vor allem über persönliche Begegnungen. Wenn die Menschen mich dann erleben, bricht ein „Zigeunerbild“ zusammen.
Das ist ein wunderbares Beispiel, dass auch an uns vorbeigegangen wäre, wenn wir 2003 nicht lauthals aufgeschrien hätten, dass es uns genauso betrifft wie die Juden.
Was ist besonders an diesem Gedenkort?
Dieser Gedenkort war der erste, der gemeinsam für Roma, Sinti und Juden erstellt worden ist. Ansonsten ist alles immer auseinander dividiert worden. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, um uns aus dieser zweiten Reihe der Opfer herauszukriegen. Dieses Denkmal ist ein ganz großes Signal und ein aufklärerisches Element, das sehr wichtig ist: Wir haben so wenige Orte, die überhaupt mit uns in Verbindung gebracht werden.
Warum?
Weil die ganze NS-Aufarbeitung, was Roma und Sinti angeht, sehr lange vernachlässigt worden ist. Die ersten seriösen Arbeiten gab es erst in den 1980er-Jahren. Es war ja auch erst 1982, dass der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt als erster deutscher Nachkriegspolitiker vom Völkermord gegenüber den Roma und Sinti sprach. Davor wurden alle Wiedergutmachungen, die Menschen beantragten, abgelehnt, weil die, die uns in die Konzentrationslager gebracht hatten, später vor Gericht als Experten saßen. Da sagten sie, wir seien nicht aus der Ethnie heraus vernichtet worden, sondern aus kriminalpräventiven Gründen. Nach dem Prinzip: „Ich stecke dich ins KZ, damit du nicht mehr klauen kannst.“Anzeigehttps://0faa425b1d7a0976b508d7da933aebe7.safeframe.googlesyndication.com/safeframe/1-0-38/html/container.html
Und warum ging es nicht über die ethnische Ebene?
Weil wir ein indoarisches Volk sind und darum wäre es für die Nazis schwierig geworden, auf der ethnischen Ebene zu argumentieren, dass man als Arier die Indoarier vernichten möchte. Deshalb hat man dieses Konstrukt des asozialen kriminellen „Zigeuners“ hochstilisiert. Im Gegensatz zum Antisemitismus, der 1945 einen Bruch erlitt durch jüdische amerikanische Forscher, die das Thema aufgriffen und publik machten, hatten wir diese Möglichkeit nicht.
Wann ging es mit der Antiziganismusaufklärung los?
So richtig begann sie erst 2003 mit der Gründung des Europäischen Zentrums für Antiziganismusaufklärung von mir hier in Hamburg. Damals haben wir angefangen, Antiziganismusforscher aus ganz Europa zusammenzuholen, um die Forschung anzutreiben und überhaupt erst als Thema zu etablieren. Was wir auch hingekriegt haben, aber nur wegen Borat – diesem idiotischen Film.
Eine Satire aus den USA von Sascha Baron Cohen aus dem Jahr 2006.
Da gab es eine antiziganistische Werbekampagne. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Von dem Werbefilm bis hin zu der Webseite, wo Sachen draufstanden wie: „Willst du schönen Goldschmuck haben, musst du ihn dir aus dem Mund vom toten Zigeuner rausbrechen“. Wir haben es geschafft, dass Reuters in den USA auf Englisch berichtete. Damit kam dann international hoch, dass wir in Hamburg gegen den Film klagen wegen Volksverhetzung und Antiziganismus. Wir haben es hinbekommen, dass die Werbekampagne nach massiver Auseinandersetzung mit 20th Century Fox gestoppt worden ist. Das hat dazu geführt, dass Antiziganismus als Begriff eingeführt wurde.
Reicht die Antiziganismusaufklärung aus?
Nein, es ist noch sehr viel nachzuholen. Wir müssen überhaupt erst mal als Menschen gesehen werden, die man wahrnimmt wie sich selber.
Wie sieht es bei staatlichen Institutionen aus? Der Polizei zum Beispiel?
Eine schöne Veranstaltung gab es bei einer Abschlusszeremonie der Hamburger Polizeischule. Da saß Emil Weiss, Sprecher der Sinti-Siedlung in Wilhelmsburg, auf der Bühne und erzählte 300 Polizeischülern: „Wissen Sie, ich habe noch nie was mit der Polizei zu tun gehabt. Nur einmal, als Sie mich aus der Wohnung herausgeholt haben und zum KZ begleitet haben.“ Das sind solche Sachen, die müssen junge Beamte erfahren, um zu wissen, wie sie mit solchen Menschen umgehen müssen.
Gibt es deshalb auch ein großes Misstrauen von Roma und Sinti gegenüber staatlichen Institutionen?
Die meisten Leute sind bis heute transgenerational traumatisiert, weil die Täter auch nie ihre Schuld eingestanden haben. Dann kann man das Trauma nicht aufarbeiten. Das ist der Rucksack, den Sinti in Deutschland tragen: Da hat jeder jemanden verloren. Dann gibt es Triggerängste, zum Beispiel vor der Polizei, die einen ja in die Konzentrationslager verbracht haben. Die Juden wurden von der Gestapo deportiert, wir von der Polizei vor der Tür, die dann nach 1945 weiter auf der Wache saß.